Direkt zum Hauptbereich

Eurovision Songtext-Kritik 7: Malta


Gerne habe ich wieder auf die Texte des Eurovision Song Contest geschaut, den man am Besten in diesem Moment gemeinsam mit der Lesebühne "Lesershow Wedding" gucken sollte. Hier der Abschluss meiner diesjährigen Songtext-Kritiken.

Malta - Morgen ist auch noch ein Tag

Bei all dem Liebesgestammel, mit dem die Beiträge beim ESC uns quälen, ist man froh über jeden Text, der ein bisschen anders ist. Der Beitrag von Malta ist so ein Kandidat, denn hier wird eine kleine Geschichte erzählt, ganz von von außen betrachtet.

Seine Name ist Jeremy,
er arbeitet in der IT-Branche.
Hat nie hinterfragt, warum
er schon immer so ein
extra-vorsichtiger Typ gewesen ist.
Sensibel und scheu,
Risikobewertung ist seine Investition
in ein Leben ohne Überraschungen.

Puh, das muss man erst mal verdauen, die armen Nerds in der IT-Branche. Was für schweren Stoff Gianluca Bezzina hier aufbietet, merkt man beim Hören aber nicht, denn der Sänger ist ein Lächelschleuder, ein Grinsepferd, dem man sich nicht entziehen kann. Er könnte wohl auch singen: “Jeremy überlegt schon etwas länger, einfach mit allem Schluß zu machen. Aber was wird dann mit Mama? Und mit seinem Goldfisch.” Und man würde gute Laune bekommen. Er ist wie Lach-Yoga. Aber auch für Jeremy gibt es Hoffnung, denn jetzt tritt eine Frau in sein Leben. 

Sie hingegen ist spontan,
Unsicherheit ist ihr Credo.
Sie ist schon immer
nie schwarz oder weiß gewesen.
Nur ein kurzes Entzücken,
sie warf einen verheißungsvollen Blick
in seine Richtung.
Eine Auswahl ihres Lächelns.

Leider fällt Jeremy aber darauf rein. Sie macht nur Spaß, und ihm ist es plötzlich ernst.

Er ist ihr zu schnell verfallen,
wir dachten nicht, dass das gutgehen kann.
Weil der liebe, gute Jeremy
seine Gewohnheiten zu sehr schätzt.
Er lebt im Heute,
aber ihr Weg ist das Morgen.
Such also eine neue Richtung,
dann wird es gehen.

Spannend wird es jetzt: Wird Jeremy aus seinem Alltag ausbrechen können? Wird er sie treffen, wird sie ihn wollen? Wir erfahren es nicht und sind enttäuscht. Enttäuscht wie Jeremy, dem sie entglitten ist. Hier der Refrain, den ich bis auf die dritte Zeile sogar ausnahmsweise für recht schön halte. Vermutlich aber war ich schon zu viele Minuten dem Grinsen von Gianluca Bezzina ausgesetzt, seiner eigentlichen Geheimwaffe:

Sie ist wie morgen,
sie ist weit weg.
Sie will nur spielen.
Wie morgen 
ist sie immer
einen Tag voraus.
Immerzu entwischt sie mir,
sie ist nah, und doch stets fern.
Es ist an der Zeit,
ihr hinterherzugehen,
morgen.

Und hier enthüllt sich Jeremys wahres Problem: Prokrastination. Denn wann ist es an der Zeit, ihr zu folgen? Morgen. Und wo ist sie dann schon? Übermorgen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Brauseboys am 18.7. (20 Uhr) mit Susanne M. Riedel, Uli Hannemann & Josias Ender

Kein Boom in Sicht (von Frank Sorge)   Ich kenne einen Ort in Brandenburg, der einen schönen kleinen Bahnhof hat. Es ist fast das Ende einer Bahnstrecke und viele Menschen wohnen hier nicht. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde die Strecke verkürzt und der Bahnhof fing an zu überwuchern. Gegenüber war jetzt eine Bushaltestelle, die stündlich eine Anbindung an das neue Ende der Bahnstrecke bot. Wirtschaftlich war das offenbar auch nicht, erst wurden die Busse verkleinert, dann ein 2-Stundentakt daraus gemacht. Es sind mindestens zehn oder fünfzehn Jahre seit der Streckenverkürzung ins Land gegangen, am Sonntag fährt fast kein Bus mehr. Der Bahnhof ist immer noch schön, jetzt vor allem schön verwittert. Die ganze Gegend hat sich kaum verändert in den fast dreißig Jahren, die ich den Ort kenne, mal abgesehen vom großen Logistikcenter und seinen LKWs. Dabei ist es nah an Berlin, wo doch sonst alles boomt. Profitiert hat von der Streckenverkürzung mutmaßlich niemand, es wurde nur immer schwer

Brauseboys am 4.7. (20 Uhr) mit Ahne und dem Kreuzmusik-Duo

Zeitstrudel (von Frank Sorge)   Auch im Wedding merkt man, dass die Ferienzeit beginnt. Überall ortsfremde junge Menschen mit Reiserucksäcken, in der Liebenwalder am Hostel heute ein ständiger Strom von Abiturientinnen und Abiturienten aus anderen Bundesländern. Der traditionelle Berlinbesuch zum Schulabschluss, er besteht offenkundig fort.  Als ich spät noch zwei Bier vom Späti hole, kommen sie mir auf dem Rückweg entgegen. Erst gucken sie mich verstohlen an, den wirren Streuner mit den zwei Bierflaschen, vor den leuchtenden Fenstern von Falafelladen und Casino, dann sehen sie hinter mir die kleine Spätkauf-Arena, die sich vor dem Laden draußen um den Fernseher gebildet hat. Denn es ist EM und ein Türkei-Spiel, und wenn es der Öffentlich-Rechtliche Fernsehfunk nicht zeigt, dann macht es der Spätkauf und kein Anwohner und kein Ordnungsamt löst die Arena auf, Ehrensache! Aber es ist lustig, wie die Augen der jungen Berlinbesucher aufgerissen sind. Als würden sie dahinter denken: Was hi

Brauseboys am 20.6. (20 Uhr) mit Tilman Birr & Yunas im Haus der Sinne

Isla del Balkonia (von Frank Sorge)   Was soll ich auf der Alm, im Diesel-Traktorqualm? Was zieht dich noch nach Sylt, der braune Strand? Dass man im Wedding besser chillt, liegt wohl auf der Hand.   Überhaupt in der Natur, störst du im Zweifel nur. Zertrampelst Käfer auf Waldwegen, scheuchst Rehe ins Gebüsch, bist jedem Mückenschwarm erlegen auf der Jagd nach fremden Fisch.   Ich häng heute lieber schlapp auf Isla del Balkonia ab. Im Schatten der Hängegeranien, mit Windrad, Hanfblüte und Grill, ein Buch über Transsylvanien, und mittags schon ein Promille. ­ Brauseboys am Donnerstag, 20.6. (20 Uhr) mit Tilman Birr & Yunas   Haus der Sinne (Ystader Str. 10)   Oleole, das Lesebühnenfieber hält an! Die emotionalsten Texte, die schnellsten Pointenjäger, jede Begegnung ein Knüller, Public Hearings, sympathische Mannschaften, ein Sommerliteraturmärchen! Wir haben sportliche, neue Texte geschrieben und beabsichtigen, diese in der Euphoriekurve des Stadions Haus der Sinne ordentlich zu sk