Mann mit Huhn (von Frank Sorge)
An der Osloer Straße stehe ich an der Ampel neben einem Mann, der ein Huhn auf dem Arm trägt. Der Herr wirkt etwas zerzaust, vielleicht gar verwirrt, aber er nimmt die Fürsorgepflicht für das Geflügel ernst. Denn es ist nicht gefroren, gerupft oder sonstwie zubereitet, es lebt. Wenige Zentimeter entfernt brausen Autos und LKWs vorbei, aber er murmelt beruhigend auf das Huhn ein, das den Kopf an seinen Hals schmiegt. Zuerst vermute ich, er würde es direkt zum Kochtopf führen, aber diese zärtliche Anwandlung macht mich skeptisch. Er muss es auch nicht wirklich festhalten, es sitzt auf seinem Unterarm. Der Wedding schaut kurz rüber, dann wird der Kauz mit dem Huhn von der Anonymität der Großstadt verschluckt. Aber er ist hier nicht allein, er hat ein Huhn, und mit dem Huhn hat er auch etwas Dörfliches in der Stadt, sollte er das vermissen. Es wirkt auch nicht so, als bringe er das Tier sicher in seinen Garten, den Zoo, oder seinen Hühnerhof, sondern vermutlich in eine dunkle Hinterhauswohnung ums Eck. Dort setzt er es in der Küche ab, stärkt sich mit einer Scheibe Vollkornbrot und wischt die Krümel vom Schneidebrett runter auf den Boden, so malt es meine Phantasie aus. Das Huhn pickt erwartungsgemäß alles auf und trottet dann rüber ins Wohnzimmer, vielleicht setzt es sich neben ihn, wenn er Fernsehen guckt.
Donnerstag, 9.5. /20.30 Uhr
La Luz (Oudenarder Str. 16-20, Osram-Höfe)
Die Brauseboys
Die empfohlene Wochendosis Lesebühne, seit zehn Jahren jeden Donnerstag mit neuen Texten. Paul Bokowski, Hinark Husen, Robert Rescue, Frank Sorge, Volker Surmann, Heiko Werning und Gäste lesen was vor.
Gäste:
Gregor Mothes (Post aus dem Sumpf)
Martin Betz (Dienstagsprophetie): www.martinbetz.de
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