Direkt zum Hauptbereich

Der bewusstlose Strom

Laufe ziellos durch den Wedding, einerseits gegen den Bewegungsmangel, andererseits um noch einen Zipfel Sonne zu erhaschen. Kaum bin ich auf der Müllerstraße formt sich ein Ziel vor Augen, aber ich werde unterbrochen und gestoppt. Eine Frau und ein Mann in dunkelgrauen Anzügen und roten Krawatten spricht mich an, ob sie mich kurz stören könnten, eine kurze Umfrage nur, sie würden gerade in der Gegend berufstätige Leute befragen. In ihrer Hand ein Block mit Zetteln, auf denen ca. fünf Fragen in einer Tabelle angedeutet sind.
Hier im Wedding auf der Müllerstraße berufstätige Leute befragen, überlege ich, was für ein Unterfangen.
“Sind Sie denn berufstätig?”
“Ja.”
“Nur ein paar Fragen.”
“Eine Umfrage? Von welcher Firma nochmal?”
“Unic”, sagt sie, bei Google finde ich später nichts.
“Und für wen arbeitet Ihre Firma?”
Sie überlegt. “Für alle möglichen… Leute.”
So ein schwacher Auftritt, fast vermute ich Zeugen Jehovas.
Wie ich meine Einkommensituation in den letzten Jahren wahrgenommen habe, steigend oder fallend.
“Stagnation”, sage ich und sehe ihr zu, wie sie etwas auf den Zettel kritzelt. Die Zettel sind reine Makulatur, das sehe ich von hier.
Ob ich das Gefühl hätte, dass die Preise gestiegen sind.
“Ja, sind sie ja auch”, sage ich.
Wieder krakelt sie was auf den Block, vielleicht einen Smiley, das Haus vom Nikolaus oder drei Kreuze für “Morgen kündige ich den Job”.
Ob ich mir vorstellen könnte, durch gezielte Beratung meine Kosten zu senken. Welche? Alle. Unauffällig auffällig lässt sie den Block in ihre Tasche sinken. Meine Herren, für wie blöd halten die mich denn?
Sie schirmen mich professionell ab vom Menschenstrom der Müllerstraße - eine Oase der Ruhe, sie bilden einen Keil, an der offenen Dreiecksseite kann ich unbehelligt stehen und skeptisch in das leer lächelnde Gesicht ihres Kollegen schauen.
Ich lehne alle Angebote ab, desto eindringlicher aber werden sie mir angeboten. Wann wir uns für eine halbe Stunde vielleicht einmal treffen könnten, um intensiver darüber zu sprechen.
“Tut mir leid”, sage ich, “da kommen wir nicht zusammen.”
Ob sie denn fragen dürfte, was ich arbeiten würde.
“Ich bin Autor”, sage ich, hinter ihren Augen arbeitet es.
Sie wolle ja nicht behaupten, dass ich von diesen Dingen nichts verstehen würde, aber sicher könnten sie mir noch helfen, Kosten zu sparen, da es eben ihr Beruf sei, das zu tun.
Das würde sich bei mir nicht mal lohnen, wenn es sich wirklich lohnen würde, sage ich. Für die dreieurofünfzig ist jede Beratung sinnlos.
Immer noch weiter beharrt sie, immer wieder verneine ich. Immer wieder lächelt ihr Kollege leer. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, denn ich halte es immer noch für möglich, dass es sich um Taschendiebe handelt.
“Und um Ihnen auch noch etwas mitzugeben, warum ich mich von Ihnen nicht beraten lassen möchte, ist meine Skepsis darüber, dass Sie eine Umfrage vorgegeben haben, um bei einer Beratung zu enden.”
“Das ist ja nur, um Interesse zu wecken”, sagt sie.
“Ja, klar”, sage ich. 
Weiß der Teufel um seine Hörner? Oder fühlt er sie nicht?

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Heiligabend mit den Brauseboys

Was ich mache, wenn ich nicht den Newsletter schreibe 1.) Eine Strichliste anlegen, wie oft ich das Wort Blitzeis im Radio höre. Überlegen, wie ich mit den Varianten "Blitzendes Eis", "Blitzkrieg", "Blitzer" und "geblitzt wird" umgehen soll. 2.) Pfefferkörner kaufen und in die Pfeffermühle bis zum Rand einkullern lassen, dann eine Brötchenhälfte mit Kassler und Käse belegen und mit Pfefferschrot schwärzen. Mich am frischen Duft der zerrissenen Splitter berauschen. 3.) Aus dem Fenster sehen. Auf der verbliebenen Schneedecke im Hof ist ein Vogel herumgelaufen, offenbar von schwerer innerer Verwirrung betroffen hat er stundenlang in vielfältigen Kreisen sein verstörendes Schneegemälde gemalt. 4.) Zeitung lesen und über Kopenhagen informieren. Der sudanesische Sprecher und "Bremser" heißt Lumumba Stanislaus Di-Aping. Die Ladezeit der Facebook-Fanseite von Thorsten Schäfer-Gümbel ist enorm. Er sagt: "Dem Schneckentempo...

Brauseboys am 2.5. im Eschenbräu: Bock auf Mai

Bier (von Frank Sorge) Was wären wir, ohne dir - Bier. Bring doch mir noch eins hier. Bier - wegen dir ich wild deklamier und schwadronier. Es veredelt Papier. Bier - der Juwelier veräußert Saphir für dir. Glorifizier, und schnabulier. Sei Pro-Bier für dein Pläsir. Was gehört aufs Klavier? Es ist immer nach vier. Bier! ~#~#~#~#~#~#~#~# Donnerstag, 2.5. /20.30 Uhr Eschenbräu (Triftstr. 67, nahe U-Leopoldplatz und S-Wedding) Die Brauseboys - Lesebühne im Wedding - ab jetzt im Eschenbräu! Seit sechszehn Jahren jede Woche neue Texte, Betrachtungen, Musik und belebende Heiterkeit. Neue Features auf dem Weg zur perfekten Location im Eschenbräu: Ein hungriger Schallschutzvorhang, der sich zu gut gelaunten Nicht-Zuschauern nebenan eigenmächtig überwirft und sie verschlingt - ein neues Klavier mit Lautstärkeregler - ein frisch gebrauter, hochgradig beruhigender Maibock.  Am 2.5. begrüßen Thilo Bock, Nils Heinrich, Robert Rescue und Heik...

Brauseboys am 18.7. (20 Uhr) mit Susanne M. Riedel, Uli Hannemann & Josias Ender

Kein Boom in Sicht (von Frank Sorge)   Ich kenne einen Ort in Brandenburg, der einen schönen kleinen Bahnhof hat. Es ist fast das Ende einer Bahnstrecke und viele Menschen wohnen hier nicht. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde die Strecke verkürzt und der Bahnhof fing an zu überwuchern. Gegenüber war jetzt eine Bushaltestelle, die stündlich eine Anbindung an das neue Ende der Bahnstrecke bot. Wirtschaftlich war das offenbar auch nicht, erst wurden die Busse verkleinert, dann ein 2-Stundentakt daraus gemacht. Es sind mindestens zehn oder fünfzehn Jahre seit der Streckenverkürzung ins Land gegangen, am Sonntag fährt fast kein Bus mehr. Der Bahnhof ist immer noch schön, jetzt vor allem schön verwittert. Die ganze Gegend hat sich kaum verändert in den fast dreißig Jahren, die ich den Ort kenne, mal abgesehen vom großen Logistikcenter und seinen LKWs. Dabei ist es nah an Berlin, wo doch sonst alles boomt. Profitiert hat von der Streckenverkürzung mutmaßlich niemand, es wurde nur immer sc...