Verwerfung (von Frank Sorge)
Wenn man eine der Verwerfungslinien dieses Landes studieren will, braucht man in der Regel nicht weit zu laufen. Hier aus dem Wedding heraus gibt es eine nach Norden, nach Reinickendorf. Dort in einem Zipfel, der aus irgendwelchen Gründen noch Wedding ist, findet gerade das Weddinger Volksfest statt, das ganz früher mal das deutsch-französische war. Mit ein paar aufgekratzten Jugendlichen steigen wir dort in den Bus, um zurück in den Wedding zu kommen, bis auf den letzten Quadratzentimeter ist das Fahrzeug mit Menschen vollgepackt. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund ecken sofort an bei zwei älteren Reinickendorfern. Sie sollen sich mal benehmen lernen, hier in unserem Land müsse man sich als Ausländer auch mal anpassen, das wäre hier halt eine andere Kultur. Selbst die Jugendlichen sind einen Moment fassungslos, denn natürlich sind es Weddinger Jugendliche, Berliner Jugendliche, deutsche Jugendliche. Es ist wie im schlechten Film, der zweite Reinickendorfer versucht immerhin zu besänftigen: "Nun fahrt mal runter", "Reisst euch doch mal zusammen" etc., nimmt damit aber den anderen in Schutz, die Jugendlichen spötteln schließlich nur noch zurück über den Alkoholkonsum der beiden Reinickendorfer, deren jahrzehntelanger Tribut in den Gesichtern nicht wirklich zu übersehen ist. Meine Kinder schauen mich ängstlich an und fragen, wann wir endlich aus diesem Bus rauskommen, aber einen Moment dauert es noch. Ein Moment, in dem ich mich wirklich frage, ob wir nicht in einen Wald ziehen sollten. Um Fuchs und Hase gute Nacht zu sagen und ab und zu von einem Baumwipfel auszuspähen, ob es die Stadt noch gibt.
Brauseboys - mit Aike Arndt und Matthias Binner
Donnerstag, 5.10. (20 Uhr)
Haus der Sinne (Ystader Str. 10)
Es beginnt der Herbst der Sinne, auch bei unserer Lesebühne. Statt 'nur' was zu hören, gibt es diese Woche auch was zu sehen, Comics und Cartoons. Außerdem servieren wir womöglich schmackhafte Essenslyrik, eingedieselte Kiezgeschichten, anrührende Dialoge, anrüchige Verse, appetitanregende Akkorde und windige Pointen. Dieses Picknick am Erntedank der Ideen solltet ihr euch nicht entgehen lassen. Einfach am Donnerstag zum Haus der Sinne schlendern, radeln, rasen, schleichen, hüpfen oder fliegen, uns ist jede Fortbewegung recht, wenn sie zu uns führt. Wir freuen uns auf live verlesene und sichtbare Comics von Aike Arndt und funkelnde Lieder von Matthias Binner.
Diese Woche oben auf der Bühne (barrierefrei).
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