Fiktionen (von Frank Sorge)
Es ist so unglaublich, dass ich es doch noch einmal protokollieren muss. Kurz vor elf Uhr fällt mir auf, dass Ausweis und Pass bald ablaufen werden, also sehe ich, damit es irgendwie demnächst zu erledigen wäre, bei der Online-Terminvergabe nach. Mir letztlich egal, wohin ich fahren muss irgendwann in den nächsten Monaten. Im Sommer ist es ja dann wieder überall schön, da ist so ein Ausflug nach Hohenschönhausen oder Köpenick wie Urlaub. Aus Spaß surfe ich gleich zum Bürgeramt Wedding und bin erstaunt, dass der nächste mögliche Termin heute um 12.20 Uhr ist, also in knapp anderthalb Stunden. Bei mir um die Ecke. Beinahe bin ich zu paralysiert, um den Button zu klicken. Als ich es doch getan habe, berauscht von der Erfahrung jenseits aller Erfahrungen, kommen mir Zweifel. Kann ich das überhaupt schaffen? Ich habe keine Fotos, auch sonst bin ich völlig unvorbereitet. Ich dusche, eile die Müllerstraße zum Fotografen hinunter - dort elendes Warten, Minuten verrinnen, Menschen sind vor mir dran. Die alle sehr gelassen, haben die nüscht zu tun? Ausführlich demonstriert mir der Fotograf seine Photoshop-Kenntnisse, dann endlich los mit den Bildern, die das erste Mal in der Reihe meiner Ausweise irgendwie ganz manierlich aussehen. Eine gute halbe Stunde noch zum Termin, also schnell zum Bäcker auf dem Rückweg, alles zu Hause abladen, wieder runter zur Tram. Eine Minute vor Termin eile ich in den Wartesaal, nach fünf Minuten Verschnaufpause wird meine Nummer angezeigt. So muss sich das mit diesen chemischen Drogen anfühlen. Zack sitze ich am Tisch, kündige den Bedarf für zwei Dokumente an.
"Dit jeht eigentlich nich, Sie brauchn für jeden Anlass einen Termin."
"Ja, ich weiß", sage ich, "aber es ging alles so... schnell."
"Ick mach dit mal, ick kann ja die Daten übernehm."
"Danke."
Ein bisschen Geklicke, Fingerabdrücke, Bezahlen mit EC-Karte, keine zehn Minuten später bin ich draußen. Sprinte zur Tram, die gerade ankommt. Keine zwei Stunden später sitze ich wieder am Schreibtisch und weiß, dass ich damit Rekordhalter in diesem Vorgang bin und es niemand glauben wird. Das ist dieses Gefühl, wie man es auch sonst derzeit häufiger hat. Dass dem Irrsinn der Welt mit Fiktionen nicht mehr recht beizukommen ist.
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Donnerstag, 23.3. /20.30 Uhr
La Luz (Oudenarder Str. 16-20, Osram-Höfe)
Die Brauseboys - frische Texte
Jeden Donnerstag nehmen Thilo Bock, Robert Rescue, Frank Sorge, Volker Surmann und Heiko Werning ihre frisch geputzten Tastaturen und lassen es klappern. Die empfohlene Wochendosis Lesebühne, seit vierzehn Jahren jeden Donnerstag mit illustren Gästen.
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