Leihfamilie (von Frank Sorge)
Der Regionalzug ist natürlich komplett überfüllt, mit einem Hechtsprung passe ich einen Moment zwischen Herausströmenden ab, um einen Sitzplatz zu ergattern. Nur Sekunden später setzt sich eine junge Frau mit ihren Eltern dazu, in der Minute darauf ist jeder Sitzplatz belegt und gleich danach die Gänge. Wir haben unsere Sitzgruppe für die nächste Stunde gefunden, sagen einmal freundlich ‘Hallo’ und ‘Man muss jeden Platz festhalten, den man kriegen kann’. Dann schaue ich aus dem Fenster und die drei unterhalten sich, anfangs noch halb geflüstert.
Das Gespräch mäandert von hier nach dort, von Wohnorten zu Herkunft, zu geplanten Ausflügen von heute und Geschichten von gestern. Die Eltern sind sympathisch, die Frau ist sympathisch, der hessische Dialekt weich, aber nicht breit. Ganz andere Leute hier im Norden, sagen die Eltern, der Vater mustert auch mich, der mit großer Willenskraft ein Schmunzeln unterdrückt. Nach einer halben Stunde fühle ich mich tief im Gespräch, obwohl ich mich nicht einmal beteiligt habe, aber ich kenne schon viele Nuancen des vertrauten Verhältnisses. Wie die Tochter freundlich ihre Unabhängigkeit verteidigt, wie der Vater das Bevormunden nicht lassen kann und die Mutter ihn wieder auf die Bahn lenkt, wie es mit dem Job läuft und der Rente, was sie heute alles vorhaben. Fühle mich direkt ein wenig als Teil der Familie, wo wir hier so vertraut am Tisch sitzen. Bin ich der Bruder oder der Freund aus Hamburg? Als es um das Essen an den Ostertagen geht, erfahre ich auch, wie es sich aktuell mit den gesundheitlichen Problemen meiner Schwester verhält. Kann ich natürlich nicht ausplaudern hier, aber ich sage mal Volkskrankheit, auch mit Spritzen muss sie hantieren. ‘Ihr wisst doch, manches lässt sich da nicht erklären’, erinnert sie uns, beinahe hätte ich genickt. Ein wenig scheinen sich mich auch zu mögen, geflüstert wird lange nicht mehr. Hier und da sehen wir uns in die Augen, aber ich habe einen weißen Vorhang dahinter zugezogen, als würde alles nur durchrauschen. Diese Familie ist nur geliehen.
Die Schaffnerin ist fröhlich, arbeitet sich einmal durch den Zug mit der Ansage “Hallo, ich komm jetzt kuscheln!”, und das ist gar nicht übertrieben, wenn man sieht, wie sie sich durch die Stehenden im Gang arbeitet. Kurz vor dem Ziel ruft sie wohl von vorne durch: “Meine liebsten Fahrgäste, das haben wir alle toll durchgestanden, ich wünsche schöne Ostertage und gute Laune!”.
Donnerstag, 24.4. (20 Uhr)
Haus der Sinne (Ystader Str. 10)
Nicht alles glauben, was im Internet steht - das wissen wir doch mittlerweile! Denn wenn der Glaube stark ist, leiden die Fakten. Es wurde jedenfalls noch kein außerirdisches Leben entdeckt, es gibt nur eine höchst interessante Spur. Auch kann nicht bestätigt werden, dass der amerikanische Vizepräsident bei seinem Papstbesuch eine Sense dabeigehabt hätte, selbst wenn Bilder eine zeigen. Wenn allerdings im Netz steht, dass am Donnerstag wieder die Brauseboys stattfinden, ist es ausnahmsweise eine echte und zutreffende Information. Wir sind kaum älter als das Internet selbst, wir haben es aufwachsen sehen und haben diese wichtigste Information jede Woche neu bestätigt. Was nicht wahr, aber lustig ist, stellt sich manchmal als Satire dar, womit sich unser Textgast Harriet Wolff als Redakteurin der 'Wahrheit' bei der taz besonders gut auskennt. Für die musikalische Unterstützung des Abends und künstlerischen Widerstand gegen alles, was rechts ist, reist niemand geringeres als Paul Geigerzähler mit seiner Geige an. Wir haben immer wieder nachgezählt, es ist nur eine, die er mitbringt! Das ist also, ganz in echt, unser Programm für das Haus der Sinne diese Woche, jetzt ist es an euch, die Sitz- und Sofaplätze zu belegen.
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