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Ich habe einen Beruf, ich bin sensibel



Den folgenden Text habe ich am 2.4. bei den Brauseboys uraufgeführt, er ist zum mündlichen Vortrag verfasst. Aber da die Realität ihn gerade akut einzuholen droht und einzelne Politiker allen Ernstes Berufsverbote für Depressive fordern, habe ich mich zur Veröffentlichung entschieden.


Guten Tag. 
Meine Name ist Volker Surmann, und ich war im Jahre 2005 mal wegen einer depressiven Episode in therapeutischer Behandlung. Eigentlich dürfte ich gar nicht vor Ihnen stehen. Denn Bühnenkünstler wurde mit dem Gesetz zum Schutze der Zivilbevölkerung (GzSZ) vom Sommer 2015 als sensibler Beruf eingestuft.
Ich könnte ja jeden Moment eine Waffe ziehen und Sie alle niedermetzeln.

BUH!

Nach §7, Absatz 2 GzSZ dürfen Bühnenkünstler mit indizierten Vorerkrankungen nur noch vor Publiken bis maximal 9 Personen auftreten, darunter keine Kinder, Pflegebedürftige sowie Haustiere mit bis zu vier Beinen.
Bevor ich weiterspreche, müsste also die deutliche Mehrheit von Ihnen den Saal verlassen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit. Ich bin ja unberechenbar.
Gut, ich würde auch denken, dass Bühnenkünstler mit dauerhaft weniger als 9 Zuschauern am ehesten Grund zum Amoklauf hätten, aber bitte …
Sie wollen wirklich bleiben? 
Okay. Nach §8, Absatz 3, Satz 1 GzSZ bin ich verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie sich ab jetzt auf eigenes Risiko in diesem Publikum aufhalten. Dieser Beschluss ist protokolliert und wurde von der Blackbox mit dem Voicerecorder im Bühnenboden gemäß §29, 2 GzSZ aufgezeichnet.

Es begann nach dem mutwilligen Absturz von Flug Germanwings 4U9525. Mit dem Gesetz zum Schutze der Zivilbevölkerung wurde die ärztliche Schweigepflicht für sensible Berufe gelockert. Seitdem müssen Ärzte und Therapeuten jedwede psychische Gefährdungslagen und Erkrankungshinweise an Behörden und Arbeitgeber melden. Als besonders sensible Berufe wurden natürlich Piloten eingestuft, das war klar, sowie sämtliche in der Personenbeförderung tätigen Menschen: Schiffskapitäne (Francesco Schettino grüßte von der Costa Concordia), Lokführer, Busfahrer, Straßenbahnfahrer sowie Betreiber von Kirmeskarussels. Was kann man da nicht alles anrichten? Eine falsche Lenkbewegung, falsches Tempo zur falschen Zeit. Und natürlich alle Mitarbeiter, die in der Flugsicherheit arbeiten. Und natürlich bei der Streckensicherheit bei der Bahn. Eine falsch gestellte Weiche kann hunderte Menschen das Leben kosten! Und natürlich alle Berufe, die mit Waffenbesitz einhergehen: Polizisten, Soldaten (ausgenommen im Auslandseinsatz), Jäger. Und Berufe, die mit Feuer hantieren: Feuerwehrmänner, Feuerschlucker. Oder anderen hochgiftigen Materialen hantieren: Chemieindustrie, Kammerjäger. Sowie natürlich sämtliche Mitarbeiter in Kernkraftwerken. Nicht auszudenken, ein manisch-depressiver Techniker im Steuerungsraum eines AKWs will einen erweiterten Suizid begehen. 
Dann fiel dem Gesetzgeber der Fall des Altenpflegers ein, der in Delmenhorst mehrere Patienten mutwillig getötet hat. Deshalb wurden auch sämtliches Pflegepersonal sowie alle medizinischen Berufe als sensibel eingestuft. Wer kann leichter ein ganzes Krankenhaus totmachen als ein irrer Arzt oder depressiver Pfleger? Na gut, der Koch womöglich noch, die Uni-Mensa lässt grüßen, womit auch alle Berufe der Lebensmittelzubereitung und -herstellung als sensibel gekennzeichnet wurden. Nicht auszudenken, ein diensthabender Milchmüller von Müllermilch wäre mal suizidal und mischte deshalb einer ganzen Charge Himbeerjogurt etwas Zyankali bei!
Einzig Taxifahrer wurde nicht als sensibler Beruf eingestuft. Die seien eh immer schlechtgelaunt, und wenn da einer ein Großraumtaxi mutwillig vor die Wand führe, wäre das ja über die Verkehrsunfallstatistik erfasst. Die Grünen wollten Autofahren per se als sensible Tätigkeit kennzeichnen, konnten sich aber damit nicht durchsetzen.

Wir haben uns in einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen.
Heiner war Busfahrer, aber da er nach dem Krebstod seiner Tochter vor neun Jahren mal in therapeutischer Behandlung war, galt er bei der BVG als rollende Zeitbombe. Verkraftet ja nicht jeder so einen Verlust, da will man ja gerne mal einen vollbesetzen Schulbus in die Spree lenken.
Peter war Fernfahrer. Das ist natürlich ein besonders sensibler Beruf. Ein Tanklaster mit 20 Tonnen Acetonperoyd kann ein ganzes Dorf in Schutt und Asche legen.
Chantal war mal Pilot. Er mochte das Fliegen so sehr, dass er sich umoperieren ließ. Die Frauenlobby hatte ja, angeführt von der EMMA, bewirkt, dass die sensiblen Berufsverbote ausschließlich für Männer gelten, schließlich wäre ja noch nie eine Frau als Amokläuferin in Erscheinung getreten.
Dummerweise muss man für eine Geschlechtsumwandlung vorher zu einem Therapeuten, der hat natürlich seine Meldepflicht erfüllt und Chantal bei der Gesundheits-Stabsstelle für sensible Indexberufe, kurz Gesundheits-StasI, angezeigt. Wäre alles kein Problem gewesen, hätte nicht zugleich jemand nachgewiesen, wie viele Frauen schon als islamistische Selbstmordattentäterinnen in Erscheinung getreten waren. Tja, Pech gehabt, Mustafa Chantal. Aber das konnte natürlich niemand riskieren.
Statt nur muslimische Frauen von dieser Regelung auszunehmen, wollte die Bundesregierung voll auf Nummer Sicher gehen. Niemand sollte nachher sagen können, man hätte nicht alles zur vorsorgenden Sicherheit der Bevölkerung getan. Mit der 2. Novelle zum Gesetz zum Schutz der Zivilbevölkerung, Absatz 4, wurde der Islam einfach generell als sensible Vorerkrankung eingestuft.
Dann kam der Abschlussbericht zum Absturz der Germanwings-Maschine heraus. Primäre Schuld träfe den Co-Piloten. Aber der Bericht erwähnte auch, dass der Absturz hätte womöglich verhindert werden können, wenn der Pilot nicht zur Toilette gemusst hätte. Seitdem dürfen Menschen mit Blasenschwäche auch nicht mehr in sensiblen Berufen arbeiten.

In Deutschland herrscht inzwischen Vollbeschäftigung. Allerdings sind 26 Prozent aller Werktätigen dauerhaft krankgeschrieben.

Als Mensch mit psychischer Vorerkrankung oder Blasenschwäche kann man nur noch in sehr wenigen Berufen arbeiten. Als Psychotherapeut zum Beispiel. Aber die werden ja nicht mehr gebraucht, weil natürlich niemand mehr zum Therapeuten geht. Wenn’s einem schlecht geht, schluck man’s halt runter. Wer will schon seinen Job verlieren?

Gutmeinende Ärzte gingen wieder dazu über, einen wie früher statt Depressionen wegen Rückenleiden krankzuschreiben. Das ging eine Zeitlang gut. Doch als immer mehr Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Rückenleiden aufmachten, wurde der Gesetzgeber misstrauisch und hat reagiert. Seitdem stehen Rückenleiden auch auf dem Index. Sicher ist sicher. Niemand soll sagen, die Bundesregierung hätte nicht alles zum Schutz der Bevölkerung getan!
So kam Norbert in unsere Selbsthilfegruppe. Er ist Altenpflegehelfer und hatte vor sechs Jahren mal einen Bandscheibenvorfall. Die Arbeitslosigkeit hat ihn völlig aus der Bahn geworfen. Jetzt hat er zum Rückenleiden noch ein „Rückenleiden“ dazu bekommen. Letzte Woche hat er sich umgebracht. Ganz allein. Aber das konnte ja vorher niemand wissen!

Wir haben interne Erhebungen durchgeführt: Die Selbstmordrate unter arbeitslosen
psychisch Vorerkranken ist um 30% gestiegen, unter Blasenschwachen um 50% und bei Männern mit Rückenleiden um 20%. Damit hat das Gesetz zum Schutz der Zivilbevölkerung ausreichend Tote produziert, um Politiker als sensiblen Beruf einzustufen.
Aber uns glaubt ja niemand. Wir sind ja krank.

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