Ahoi, Brauseboys
Ein Abschiedstext von Paul Bokowski
"Gute sechs Monate ist es nunmehr her, dass ich den Brauseboys meinen geplanten Ausstieg verkündet habe. Die Begründung ist nach wie vor eine sehr einfache: Nach zehn Jahren Brauseboys, einer der umtriebigsten Lesebühnen der Stadt, ist das Bedürfnis in mir herangewachsen, dieses Kapitel meines Lebens abzuschließen. Die Kollegen haben, so viel darf hoffentlich verraten werden, erwartungsgemäß reagiert: Heiko Werning, im Grunde seines Herzen ein wahrer Gentleman, hatte genug Anstand, um seine Erleichterung und Freude angemessen zu verbergen. Frank Sorge, zum Zeitpunkt der Verkündigung leicht bekifft, hat es zuerst für einen Aprilscherz gehalten. Bis Mitte Juli etwa. Volker Surmann hat die traurige Mitteilung, mit einer, zumindest für einen gebürtigen Ostwestfalen unerwartet langen und emotionalen Rede kommentiert, wie man sie im Teutoburger Wald zuletzt von Hermann dem Cheruskerfürsten vernommen haben dürfte. Ich zitiere: “Ok.” Und Robert Rescue, unser weinerliches Sensibelchen, schickt seither alle drei Tage spätnächtliche Emails über den Verteiler, die mit Wut, Freude, Trauer, Pathos, Verdrängung, Gleichmut, Hysterie und nicht zuletzt einer sonderbaren Hinwendung zu Gott so ziemlich alle emotionalen Ebenen abdecken, wie sie eigentlich nur sterbenskranke Menschen erleben, wie sie Robert aber in 15 Jahren voller Jobcenter-Maßnahmen kennenlernen durfte.
Ebenso erwartungsgemäß, wenn auch in ihrer schieren Anzahl überraschend, waren die zahllosen Gelegenheiten, zu denen ich auf meinem geplanten Ausstieg angesprochen wurde. Auch wenn die durchschnittlichen Besucherzahlen unserer Lesebühne etwas anderes vermuten lassen, haben sich die Brauseboys in den letzten 13,5 Jahren einen beträchtlichen Fankreis aufgebaut, der die Grenzen des heimischen Bezirks längst gesprengt hat. Ich wurde in der Nähe von Zürich darauf angesprochen, in Heidelberg, in Cottbus – sogar in Spandau. Ein jedes Mal mit der gleichen Entrüstung, der gleichen Besorgnis, der gleichen Anteilnahme. Menschen, die sich auch nach wenigen Besuchen bei den Brauseboys, mögen diese Besuche auch Jahre zurückliegen, noch immer mit dem Kollektiv und unserer Veranstaltung verbunden fühlen. Und fast hätte es mich mit Stolz erfüllt, hätte sich nicht jedes Mal, nach meiner kurzen Erläuterung über die Gründe meines Ausstiegs, der gleiche Schleier des Zweifels über ihr Gesicht gelegt. Auch einige Kollegen der Berliner Slam- und Lesebühnenszene wollten sich mit meiner gefühlten Begründung, der es (so viel sei zugegeben) an harten Fakten und handfestem Drama mangelt, nicht zufrieden geben.
Dabei ist nichts wirklich Ungewöhnliches daran, dass ein langjähriges Mitglied einer wöchentlichen Lesebühne den Entschluss fasst, aufzuhören. Fünf wöchentliche Bühnen gibt es dieser Tage in Berlin, und keine einzige davon ist bisher vor personellen Veränderungen verschont geblieben. Die Gründe für einen Ausstieg können dabei sehr vielfältig sein. Ein besonders breites Spektrum finden wir bei den aktiven und korrespondierenden Mitgliedern der Reformbühne Heim & Welt, die fast 20 Jahre lang im Kaffee Burger aufgetreten sind. Dort hat man Mitglieder an das gesellschaftliche Konstrukt der Familie verloren, an andere Bühnen, an persönliche Befindlichkeiten oder an den Ruhestand. Im Falle von Wladimir Kaminer sogar an Ruhm und Reichtum und im Falle von Michael Stein an einen viel zu frühen Tod. Härter noch hat es die Brauseboys getroffen. Hinark Husen, langjähriges Mitglied, für immer verloren an den ersten Arbeitsmarkt. Nils Heinrich, seines Zeichens sogar Gründungsmitglied, verschollen in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs. Gelegentlich gesichtet in Steglitz-Zehlendorf, jedoch wurde aus Ermangelung einer Fahrtkostenkasse von einer Wiederaufnahme abgesehen.
Nun: Ich werde nicht nach Stuttgart ziehen. Ich hab keinen Krebs, keinen unbefristeten Arbeitsvertrag und werde mir nicht am Spandauer Schifffahrtskanal eine Kugel in den Kopf jagen. Und was den stillen Zweifel der Kollegen angeht: Natürlich wäre es falsch und töricht die Brauseboys als ein perfekt funktionierendes Kollektiv darzustellen. Die letzten zehn Jahre, wie auch die Zeit vor meinem Erscheinen, waren auch immer von Streitigkeiten gezeichnet, von gelegentlichen Querelen und teils gewaltigen Diskrepanzen. Aber all dies ist gegenüber den anderen Kollektiven dieser Welt und den anderen Lesebühnen dieser Stadt kein Alleinstellungsmerkmal der Brauseboys. Was uns aber sehr wohl von allen anderen Lesebühnen dieser Stadt unterscheidet, ist, dass es den Brauseboys von jeher gelungen ist, diese Streitigkeiten, Querelen und Diskrepanzen in einen konstruktiven Prozess einzubinden, der im Laufe der Jahre Erstaunliches hervorgebracht hat: Mehr als siebenhundert reguläre Donnerstagsveranstaltungen, dutzende Auswärtsauftritte inner- und außerhalb Berlins, Themenmonate wie den Nachwuchsmonat, den Slamtember, die Polit-, Schlemmer- und Erotikwochen, die Brausegirls und nicht zuletzt einen alljährlichen kabarettistischen Jahresrückblick mit mittlerweile weit über zwanzig Vorstellungen und über 2000 Zuschauern pro Jahr.
Ich bin überaus stolz darauf, dass ich meinen kleinen Beitrag zu all dem leisten durfte. Dass ich zehn Jahre lang ein Teil dieses kleinen Kollektivs sein durfte. Diesem sonderbaren sozialen Gefüge, das nicht aus einem Freundeskreis heraus entstanden ist, sondern durch den schieren Zufall zueinander gefunden hat. In dem es nicht immer einfach war, sich als neustes und zugleich jüngstes Mitglied einzufinden und gegenüber den Kollegen, die durchweg reicher an Alter und Erfahrung waren, zu behaupten.
Aber zu guter Letzt sei daran erinnert, dass es ein anderes gesellschaftliches Gefüge gibt, in dem alte und neue Mitglieder immer wieder aneinandergeraten. In dem die Beteiligten nicht durch Freundschaft aneinander geschweißt werden, sondern einzig durch die Zeit, die sie miteinander verbringen, durch die Erlebnisse, die sie teilen und die Hürden, die sie als Gemeinschaft meistern. Ein Gefüge, das selten perfekt ist, aber ebenso selten zerbricht, nur weil einer der Beteiligten beschließt einen anderen Weg einzuschlagen. Es gibt einen einfachen Grund, warum ich die Brauseboys im Inneren meines Kopfes, wo die Sprache ihren Anfang nimmt, nicht als Freunde tituliere: Weil es mir viel näher liegt, sie als Familie zu bezeichnen. Und womöglich ist genau das die richtige Metapher um begreiflich zu machen, was einige der anderen Lesebühnenkollegen so schwer begreifen wollen: Dass keines der kleinen alltäglichen Probleme stark genug war, mich von ihnen fort zu treiben, sondern einzig das stetig lockende Gefühl, dass es langsam an der Zeit ist, zu Hause auszuziehen.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass es auch mit Thilo Bock Streitigkeiten geben wird, Querelen und Diskrepanzen – aber gemeinschaftlich werden sie Großes erreichen. Denn auch hier bin ich mir sicher: Dass die Brauseboys mit Thilo Bock den perfekten Nachfolger für diese kleine komische Familie gefunden haben. Und ich hoffe sehr, dass ich trotz meines Ausstiegs, auch in Zukunft noch immer ein Teil davon sein werde.
Vielen Dank. Von Herzen."
[Paul Bokowski war zehn Jahre lang aktives Mitglied der Lesebühne Brauseboys. Er wird auch weiterhin auf den Berliner Lesebühnen sein Unwesen treiben.]
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