Warum schockiert und und bestürzt mich das Attentat in
Orlando so sehr? Und wieso wurmt es mich so sehr, dass die bundesdeutsche
Öffentlichkeit zunächst viel weniger davon Notiz nimmt als von anderen Attentaten?
Nach den Paris-Anschlägen wollten alle Charlie oder Paris sein, nach den
Anschlägen in Belgien waren immer noch sehr viele Bruxelles. Nach dem Attentat
in Orlando scheint nur die LGBT*-Szene tief berührt zu sein. Wo sind die Trauerflore
bei Nationalspielern? Wo bleibt die Frage, ob man an einem Tag mit 49 Toten auf
der Bühne lustig sein darf? Wieso wird das Brandenburger Tor nicht angestrahlt
in den Farben von ... tja, welchen Farben eigentlich? Amerikas? War das denn
ein Anschlag auf Amerika? Nein, es war ein Anschlag auf Schwule und Lesben. Und
das macht offenbar alles anders.
Flashback: Mein Blick nach Orlando beginnt Ostern in
Berlin: Ich stehe mit zwei Freunden vor dem Berghain an. Ich gehe normalerweise
nicht ins Berghain, nur einmal im Jahr zur schwulen SNAX-Party am Karsamstag.
Datum: 26. April, vier Tage nach den Anschlägen in Brüssel. Während wir
geschlagene drei Stunden in der Schlange stehen, kreisen zeitweise folgende
Gedanken in meinem Kopf: Erstens: „Wenn ich IS-Terrorist wäre, dann wäre das
hier perfekte Ziel.“ Mindestens zweitausend vergnügungssüchtige Schwule vorm
berühmtesten Club der deutschen Hauptstadt. Diese Schlange steht für all das,
was der IS am meisten hasst: Westliche Dekadenz, Hedonismus, sexuelle
Freizügigkeit, und diese Schlange steht dicht gedrängt und aufgereiht 800 Meter
bis zum Baumarkt hinten an der Ecke. Einmal mit ein paar Motorrädern dran
vorbeibrettern wie in Paris und dabei aus allen Rohren feuern: Die Opferzahl
wäre immens. Zweiter Gedanke: „Und es würde noch nicht jemand mal trauern.“
Denn hier in der Schlange stehen nicht die braven homosexuellen Polohemdenträger
aus den Stock-Graphic-Pools, die gern heiraten und Kinder adoptieren wollen. –
Was natürlich völliger Quatsch ist: Natürlich sind die hier auch dazwischen,
aber heute entspricht hier niemand dem Bild vom Homosexuellen, wie es liberale
Werbung, aufgeschlossene Heten und konservative LGBT-Aktivist*nnen gerne
idealisieren. Hier steht die versammelte Fetischszene des halben Kontinents,
das hedonistische, promiske, exzessive schwule Leben in entsprechender Gear.
Unvorstellbar, dass Angela Merkel Opfer in Harness oder Chaps mit nacktem Arsch
staatsbetrauern würde – und mögen es noch so viele sein. Unvorstellbar, dass
für diese queere Welt das Heterodeutschland sein Facebookprofil
regenbogenfarben einfärben würde. Glücklicherweise hielt ein dritter Gedanke
diese beiden ersten in Schach: „Warum geht’s bei diesem Scheißeinlass nicht
voran?!“
Am Ende habe ich doch ein bisschen aufgeatmet, als ich
endlich drin war im Berghain, umgeben von meterdickem Beton, der auch nur eine
trügerische Sicherheit gibt, denn wenn Attentäter erstmal im Gebäude sind, wird
alles noch viel schlimmer, das haben wir bei allen Bluttaten nach diesem Schema
gesehen, aber dazu müssten sie erst einmal reinkommen ... Ich war jedenfalls
froh, weg vom Präsentierteller da draußen zu sein.
Nun ist es also passiert. Im Pulse in Orlando, USA.
In meiner Betroffenheit fühle ich mich an mein Unbehagen am Ostersamstag
erinnert. Es war wohl bloß eine Frage der Zeit, bis auch wir Schwulen, Lesben
und Transgender ins Visier des Terrors gerieten – auch
wenn es offenbar kein vom IS gesteuerter Anschlag sondern
ein Einzeltäter war, der sich selbst islamistisch radikalisiert hat, und mit
seinem Angriff zudem in der Tradition dramatischer Amokläufe steht, die ja, wie
mein Kollege Heiko Werning auf Facebook bitter bemerkte, in den USA fast schon
zur Folklore zählen.
Undenkbar, dass in Deutschland ein Mann, der zweimal in
Visier der Bundespolizei geriete (und wurde er nicht sogar wegen psychischer
Probleme behandelt?), so mir nichts dir nichts in einen Waffenladen spazieren
und ein Schnellfeuergewehr kaufen könnte. (Dass es dort überhaupt so
etwas wie Schnellfeuer- und Sturmgewehre zu kaufen gibt, führt jeden Selbstverteidigungsethos
der amerikanischen Waffenlobby ad absurdum.)
Donald Trump, der vor kurzem noch der National Rifle
Association bedingungslose Gefolgschaft geschworen hat, erklärt den Amoklauf
dann auch kurzerhand zu einem Problem vom außen und feierte sich für seine
Forderung eines generellen Einreiseverbots für Muslime. Damit ist es kein
Problem der Waffenpolitik mehr, sondern angeblich eins der Einwanderung.
Kein Wort des Mitgefühls von ihm für die Opfer. Wie auch?
Schließlich hatte da gerade ein Angehöriger seiner meistgehassten Minderheit 49
Angehörige einer bei seiner Anhängerschaft nicht minder verhassten Minderheit
gemeuchelt. Trumps implizit an seine Fans heraustrompetete Argumentation lautet
wie folgt: „Schaut, diesmal hat es zum Glück nur Schwuchteln getroffen, aber es
könnte auch euch aufrechte Weiße treffen.“ – Kein Wunder, dass die
LGBT-Bewegung weltweit entsetzt ist.
Jeder, der nach dem Attentat von Orlando dem Islamhass das
Wort redet, sollte sich fragen, inwieweit er sich damit nicht mit dem Wahnsinn
Donald Trumps gemein macht. Kein Einwanderungsstopp dieser Welt könnte ein
Attentat wie dieses verhindern. Nach allem, was wir bislang wissen, war das Motiv des Orlando-Attentäters wohl eine höchst brisante Mischung
aus psychischer Störung, aggressiver Homophobie (womöglich gepaart mit eigenen
entprechenden Neigungen) und einer islamistischen Radikalisierung im Sinne von
IS und Co. Dem IS war die Tat dann erklärtermaßen gern willkommen.
Doch wir dürfen nicht
vergessen: Die religiöse Radikalisierung (gleich welcher Religion oder
Konfession) fördert und fordert solche Taten, weltweit. Der radikal-christliche
Utöya-Attentäter Anders Breivik wird in seiner Zelle nicht um die 49 Schwule
Opfer weinen.
Christliche Fundamentalisten liefern genauso Munition für
das Sturmgewehr AK15 wie islamistische Hassprediger des IS.
Und so sehr, wie Donald Trump in seinem Wahlkampf
inzwischen versucht, auch die extrem homofeindliche religiöse Rechte der Tea
Party für sich zu gewinnen, würde es mich nicht überraschen, wenn auch einer
seiner Anhänger irgendwann zum Sturmgewehr griffe.
In Europa wäre ein pychisch labiler, aggressiver, junger
Muslim wie Omar Mateen offenbar einer war, vielleicht nach Syrien ausgereist –
der IS wirbt ja gezielt verunsicherte, sozial abgehängte junge Männer an –,
hätte sich weiter ausbilden und radikalisieren lassen, hätte womöglich dort
schon Homosexuelle von Hochhäusern schubsen dürfen und wäre schlimmstenfalls
irgendwann zurückgekehrt als Attentäter einer Terrorzelle. In den USA, im Land
der Waffendiscounter, schreiten die frisch Islamisierten offensichtlich lieber
gleich zur Tat: Amok und Anschlag verbrüdern sich im religiösen Wahn.
Erschwert etwa diese Gemengelage das Entsetzen über die
Tat? Wieso kommt es, dass dieses Attentat hierzulande, z.B. in den sozialen
Netzwerken, viel weniger Aufsehen erregt als andere zuvor? Sind wir so
abgestumpft durch den Terror in Serie? Ist es die schwer durchschaubare
Motivlage beim Täter? Ist es doch zu nah an den üblichen Nachrichten von
Amokläufen in den USA? Oder hat es schlicht was damit zu tun, dass die Opfer
Schwule und Lesben waren? Ist das Attentat von Orlando lediglich ein
„Special-Interest“-Blutbad?
Ich habe keine Antworten, aber ich habe Fragen. Und ich
glaube auch nicht, dass mehr Solidaritäts-Regenbogenflaggen die richtige
Antwort sind.
Natürlich rückt Betroffenheit ein Unglück immer näher an
einen persönlich ran. Vielleicht bin ich ja nicht der einzige, der in manch
einer Schlange vor manch einer queeren Location zeitweilig etwas Unbehagen
spürte.
Je näher man sich der Zielgruppe fühlt, desto stärker die
Befindlichkeit. Das Charlie-Hebdo-Attentat fiel in eine Zeit, in der ich mit
einem satirischen Jahresrückblick auf der Bühne stand. Natürlich schauten wir
ab dann jedes Mal, wenn während der Vorstellung die Tür aufging, etwas bang
hinüber. Ich weiß von Kollegen, die in der Zeit draum baten, die Eingangstüren
ihrer Spielstätten abzuschließen.
Ich war Charlie, weil ich
Satiriker bin. Sonst war ich nichts, nicht Paris, nicht Brüssel. Ich mag auch
nicht Orlando sein. Ich war da nie, und in den US-amerikanischen Gayclubs, in
denen ich war, hat es mir nie gefallen. Aber ich bin schwul, und betrachte
diesen Massenmord schon als Anschlag auf andere sexuelle Identitäten generell.
Die Regenbogenflagge auf Halbmast schien mir persönlich als passendstes Symbol
für meine Gefühlslage. Wir haben 49 von uns verloren, und wir haben einen Teil
unserer mühsam erkämpfen Unbeschwertheit verloren.
Dem IS oder andersgläubigen
Fundamentalisten ist es egal, ob der Anschlag gesteuert war oder von einem
Sympathisanten kam. Sie jubeln. Und ich fürchte, damit könnte ein Präzedenzfall
geschaffen worden sein, und das schürt wohl mein Unbehagen. Ich glaube, das ist
auch die Angst, die in der Community umgeht.
Um so enttäuschender die offizielle Reaktion der
Bundesrepublik. Natürlich hat die Kanzlerin recht, wenn sie den Anschlag von
Orlando als Anschlag auf eine offene und tolerante Gesellschaft bezeichnet. Ja,
er zielte auf die Mitte der Gesellschaft, denn wir sind mitten drin: Lesben,
Schwule, Trans*-Persönlichkeiten. Wir sind überall. Und trotzdem ging Merkels Reaktion
völlig fehl, blendete sie doch völlig aus, dass dies in allererste Linie ein
Massenmord an 49 Schwulen und Lesben war –
und das in einem der wenigen Schutzräume für homosexuelle Identitäten, einem
queeren Club. Kein Wort der Sympathie für die LGBT-Bewegung kommt der Kanzlerin
über die Lippen, uns sei ihr Herz auch noch so schwer.
Ansonsten aber bleibt Merkel
selbst nach so einem abscheulichen Attentat ihrer generell distanzierten Linie
treu. Sie ist klug genug zu wissen, dass LGBT-Personen zu einer offenen
Gesellschaft dazu gehören, aber persönlich ist sie nicht bereit, diese mehr als
zu dulden. Das muss man ihr übel nehmen.
In Frankreich erstrahlt der Eiffelturm in den Farben der
Rainbowflag. Auf der Fanmeile zur EM wird eine Schweigeminute für die Opfer
abgehalten: Fußballfans schweigen für schwule Opfer! Wer immer sich das
ausgedacht hat, zwingt da zwei Welten aufeinander, wie sie sich im alltäglichen
Leben oft aus dem Weg gehen (müssen).
Ich hätte mir von Merkel eine
deutlichere Reaktion gewünscht, ein klares Bekenntnis zu Schwulen, Lesben und
Transgendern in Deutschland, ein: „Wir wissen, dass ihr zu unserer Gesellschaft
dazu gehört und wir werden euch verteidigen, solltet ihr angegriffen werden –
und das nicht, weil eine offene Gesellschaft Leute wie euch aushalten muss,
sondern weil sie euch als wertvolle Mitglieder ansieht.“
In diese Richtung hat sich
Hillary Clinton geäußert, auch wenn es im heißen Wahlkampf natürlich etwas
geschmäcklerisch daherkommt. Trotzdem: Auf ein solches Bekenntnis aus Merkels
Mund warten Deutschlands Lesben, Schwule und Transgender seit langem, und hier
– nach dem Attentat von Orlando, wo es so einfach anzubringen und so dringend
nötig gewesen wäre –, bleibt Merkel lieber bei Allgemeinplätzen aus dem standardisierten Phrasenbaukasten für Trauerfälle.
Nicht zuletzt Merkels
unerklärliche Zurückhaltung zeigt, dass es mit queeren Teilhabe an der
Gesellschaft längst noch nicht so weit her ist, wie viele sich das in
Deutschland wünschen würden oder wir es selbst geglaubt haben.
Und mit dieser ernüchternden
Erkenntnis nehme ich die Nachrichten der folgenden Tage auf:
Der Vater des
Orlando-Attentäters sagte nach der Tat, sein Sohn hätte sich mal furchtbar über
zwei Männer aufgeregt, die sich auf offener Straße geküsst hätten.
Mehrere Kommentatoren berichten
von Gegenden in Deutschland, wo sie niemals einen anderen Mann auf der Straße
küsssen würden.
Und schauen wir erstmal raus aus
Deutschland:
Am Montag nach dem Massenmord
von Orlando streitet der UN-Sicherheitsrat über eine Verurteilung. „Streitet“,
weil sich Russland und Ägypten gegen einen Verweis auf die sexuelle Identität
der Opfer wehren.
Am Dienstag nach dem Attentat lese ich eine kleine Notiz
in der Zeitung, in Singapur hätten die Behörden eine Szene von „Les Miserables“
zensiert, in der sich zwei Männer geküsst hätten. Die Stelle wurde aus der
Inszenierung gestrichen: zwei weitere küssende Männer, die ausgemerzt wurden. Eins
der vielen kleinen Attentate, die tagtäglich weltweit geschehen.
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