Das Orakel im Kiez (von Frank Sorge)
In der Kneipe "Seesack" hörte ich von Heinzi, dem Weddinger Fußballorakel. Nicht nur zur WM weissage er, erzählte ein Männchen am Tresen, das ganze Jahr könne man seine seherischen Kräfte bemühen, mindestens bis in die Kreisliga hinein. Eine überregionale Berühmtheit hätte er über die Jahre erlangt, hörte ich weiter zu meinem Verblüffen. Vor allem in Wettsalons, fügte er an, dass ich noch nie von Heinzi gehört hätte, ließe aber eigentlich nur den Schluss zu, ich nähme es mit dem Fußball wohl nicht so genau. "Genau", war ich versucht zu bestätigen, bemerkte jedoch rechtzeitig, dass nach den letzten Worten die Aufmerksamkeit aller Kneipengäste auf mich gerichtet war. Nicht aggressiv, nur latent übersensibel, so weit man die regungslosen Gesichter hinter ihren Vereinsschals, Wappen-Mützen und Schland-Tröten überhaupt ausmachen konnte.
"Doch, doch", rief ich aus, "Olé, olé, olé - ich muss ihn sehen." Was sie beruhigte.
Um einen Orakelspruch zu erlangen, müsse ich gen Norden aufbrechen, hoch in den Rehbergen liege sein Domizil. Ich solle mich dort mit einem Kasten Schultheiss vorstellen, meine konkrete Frage äußern, und den Weg täglich bis zu einer Antwort des Orakels wiederholen.
So schulterte ich am nächsten Tag einen frischen Kasten aus dem Supermarkt und begann den Aufstieg in die Berge. Bald schon sah ich auf der Straßenseite gegenüber noch jemanden sich mit Pilsetten abschleppen, je näher ich Heinzis Tempel kam, desto mehr wurden es. Am frühen Mittag gelangte ich erschöpft zu der Hinterhofeinfahrt, die mir genannt worden war, und stellte mich in die Schlange der Bittsteller. Neben der Einfahrt befand sich offenbar ein Lager der Kneipe nebenan, mürrisch wies ein ziegenbärtiger Alter die Wartenden an, ihre Kisten dort an der Tür abzugeben, wo die Gaben namentlich quittiert wurden. Längst nicht alle hatten nur Bier dabei, auch Hochprozentiges landete im Lager oder den umfangreichen Taschen des Alten.
"Ich bin das erste Mal hier", sagte ich ihm, als ich an der Reihe war, und reichte ihm einen Flachmann, der in seinem Mantel verschwand, wo es klimperte. Der Alte nickte mir zu: "Geh hier links durch zu Jutta, die nimmt deine Frage auf." Er wies auf einen Flur im Seitenflügel.
Donnerstag, 12.6. /20.30 Uhr
La Luz (Oudenarder Str. 16-20, Osram-Höfe)
Die Brauseboys - frische Texte
Jeden Donnerstag nehmen Paul Bokowski, Robert Rescue, Frank Sorge, Volker Surmann und Heiko Werning ihre frisch geputzten Tastaturen und lassen es klappern. Die empfohlene Wochendosis Lesebühne, seit elf Jahren jeden Donnerstag mit illustren Gästen. Manchmal auch ohne Gäste, wenn Fußballgroßereignisse anstehen, von denen wir uns aber sonst nicht stören lassen.
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